DAS OHR

 

Das Ohr hielt sich auch an diesem Abend zu.

 

 

Eigenartig, dachte es, dass fast alle Münder, die sich bemüßigt fühlen Anteil zu nehmen, das Problem auf meiner Seite sehen. Dabei findet sich das rücksichtslose, a-soziale Gebaren, also das Verhaltensproblem, nämlich wochenlang, beinahe täglich, und dann stundenlang, in wahren Hochzeiten gar von 8 Uhr morgens bis 22 Uhr abends, bei weit geöffnetem Schalltrichter Instrumenten- und Stimmbandvergewaltigungen zu zelebrieren, doch genau genommen gegenüber.

 

Da der massive Zuhaltedruck dem Ohr lediglich Taubheit, doch keine Taubheit beschied, öffnete es sich wieder. Grauenvoll. Das soll Beethovens 6. Sinfonie sein. Der 1. Satz. Das Allegro ma non troppo. Ma non troppo! Wo ist der Rhythmus? Wo das Schwingen? Die „Vogelflöten“? Das Pastorale? Das Ohr lauschte gequält nach seinen Fingern und Beinen. Seid ihr gerade beschäftigt? Nein? Könntet ihr bitte mal zur Stereoanlage gehen und diese einschalten? Danke! Ah! Arvo Pärt. Spiegel im Spiegel. Violine und Klavier. Aaah!

 

Das Ohr versuchte den Geigentönen zu folgen. Da! Es tönt aufwärts, vom eingestrichenen a zum zweigestrichenen b. Der vorvorletzte Durchgang. Danach kommt die vorletzte Spiegelung. Doch, nein. Ach, nein. Die Geige klingt viel zu himmlisch zart. Sie kann sich gegen die Kakophonie der Gegenübers nicht durchsetzen. Finger, last ab. Es ist sinnlos. Schaltet ab. Beine, kommt zurück.

 

Wenn die Münder doch wenigstens ein einziges Mal "Schützt die Ohren! Schalltrichter zu!" in Richtung Gegenüber proklamieren, anstatt ihm, dem Ohr, wieder und wieder, von "Ohrstöpsel!" bis zu "Wegziehen!", nur allerlei bunte "Problemlösungen" anbieten würden. Warum denn sollte das Ohr, warum es, Konsequenzen zum eigenen Nachteil ziehen? Schließlich war es ja ganz einfach nur. Bedrängte, nötigte niemanden, auch das Gegenüber, nicht. In keiner Weise. Wohingegen dies … Heiliger Hammer und Amboss, der Schalltrichter ist ja nur ein Aspekt. Und doch schlug man ihm, dem Ohr, diese Absurditäten vor.

 

Absurd. Genau. Misstönend. Welch köstliche Kongruenz. Das Ohr musste lachen. So sehr, dass es das klare Gewässer des Vestibüls der Schnecke aufschäumte und so die Wand des ihr angrenzenden Ganges erschütterte. Und je lauter das Ohr lachte, umso mehr erregten sich die Aufnehmer, bis das Ohr über das zeitgleiche Abspielen der Aufnahme nur noch sich selbst hörte. Lachend. Worüber es, das Ohr, schließlich noch mehr lachen musste.

 

Und so hörte das Ohr die letzten Akkorde der Sechsten, zweimal F-Dur, gar nicht. Dabei ist es ein so liebliches Ende, mit insektengleichem Schwirren in den hohen Streichern, einem leisen pastoralen Rufen in den Hörnern – und dann das freundliche, weich ausklingende Tutti . Wie hätte dies dem Ohr gut getan. Aber wer weiß, was die Gegenübers daraus gemacht haben. Dann doch lieber so.

 

Bei aller Fröhlichkeit wurde das Ohr nun aber dennoch nachdenklich. Wenn die Münder doch recht haben, wenn es doch mein Fehler ist?

Vielleicht begann mein Fehler ja bereits mit meiner Geburt. Dass ich nicht taub zur Welt kam. Was muss ich auch hören!?

Und dann: Welche Dreistigkeit von mir, dass ich zeitlebens immer wieder genau dahinzog, wo sich Beethoven, Karajan, Krips, Bernstein, Solti, Harnoncourt – und so weiter und so fort – von Herzen gerne ein Stelldichein geben. Natürlich werden dadurch die Hörgewohnheiten versaut.

Und schließlich: Die Gegenübers und ihre akustischen Vergewaltigungen waren ja vor mir schon da. Ich wusste doch, wo ich hinzog.

 

Kein Zweifel also. Die Schuld liegt bei mir. Nur bei mir. Die Münder haben recht.

 

Und das Ohr dachte an Vincent van Gogh.

 

 

© Jürgen M. Brandtner - 08.07.2016