FRAU SOWIESO MACHT NACHDENKLICH

Kapitel 1 – DER FEDER DIE FREIHEIT

 

Nachdem wir schon seit längerer Zeit Facebook-„Freunde“ waren, hatten B. und ich uns endlich auch im echten Leben auf einer sehr notwendigen, und deshalb kaum besuchten, Benefizveranstaltung für „writers in prison“ kennengelernt. B., mit einem großen B wie in LieBe.

Kaum sahen wir uns, hielt sie mich zwar mit weit geöffneten Armen für einen Anderen. Doch nach Klärung der Identität öffnete sie ihre Arme noch einmal nicht minder weit, schloss ihre Herzkammern auf, stellte zwei weitere Stühle hinein, für meine Frau und mich, und lud uns ein, uns dort niederzulassen und wohlzufühlen.

Ein Hoch also auf diesen Abend. Nicht nur, dass eine ganze Schar faszinierender Künstler mit einem gemeinsamen Anliegen sich zusammengefunden hatten. Unter ihnen war eben auch B., mit einem großen B wie in LieBe.

Und auch wenn der Abend ein Ende hatte, die Stühle stehen noch da. Doroud!

 

Kapitel 2 – WAS IN DER LETZTEN FOLGE GESCHAH

 

Die beste Ehefrau von allen und ich fuhren am nächsten Tag wieder zurück. Schüler von mir erwarteten mich zu ihrer Performance. Ja, ja. Auch das gibt es.

B. hingegen fuhr mit ihrem gleichermaßen warmherzigen Gatten nach Strasbourg. Dort ließ sie sich faszinieren. Im Guten und im Schlechten. Und brachte Fotos mit. Vom Guten und vom Schlechten. In ihrem Herzen findet wohl fast alles und fast jeder Platz.

 

Kapitel 3 – EIN FOTO AUS DEM SÜDEN

 

Ein Foto, das B. aus Strasbourg mitgebracht hatte, zeigt „Eine Bettlerin. Ich sah, wie sie sich hinlegte, um zu schlafen. Die Leute beachteten sie nicht.“ Ein sehr berührendes Foto.

 

 

 Und dann war er wieder da, dieser Moment, den ich früher so oft gehabt hatte: Ich sah ein Bild und hörte oder fühlte die Worte dazu. Eine Art von Synästhesie. Und nicht lange drauf hatte ich mein Gedicht „Ein letztes Gespräch“ (===> Link) zu Papier gelassen.

Natürlich ließ ich diese Verwortung umgehend B. zukommen, die ja Anteil daran hatte. Sie, ihrerseits berührt, ließ es ihrer sozial-medialen Welt zukommen – wovon ich Kaumgelesener nur profitieren konnte – versehen mit folgender Widmung an mich:

Dein Gedicht berührt mich sehr,
tief im Herzen sitzt mein Weh,
Armut, offene Hände leer,
ich auf nacktem Pflaster seh.

 

Schlimmste Armut ist jedoch
jene, die im Herz gedeiht,
hinterlässt ein tiefes Loch,
weil sie Menschlichkeit entweiht.

 

Kapitel 4 – EIN KOMMENTAR AUS DEM NORDEN

 

„Es stellt sich (zumindest mir) die Frage, ob es am beklagenswerten Zustand der Welt etwas zum Besseren ändert, wenn man ein abgelichtetes Elend dazu benutzt, um seine eigene Betroffenheit zur Schau zu stellen. Zumal es den Anschein hat, als hättest Du, [B]., die Frau nicht um Erlaubnis gefragt, ihr Abbild zu veröffentlichen. Dies empfinde ich als entwürdigend und pietätlos und alles andere als mitfühlend. Der Respekt vor jedem Lebewesen beginnt mit der Rücksichtnahme auf seine Intimsphäre. Nur mal so als Gedankenanstoß…“

 

Diesen Kommentar ernteten B. und ihr Foto von einer Frau Sowieso. Als ich dies las, sträubten sich mir die Augen.

 

Kapitel 5 – PARAGRAPHEN-RODEO

 

Fakten lassen sich auch unter Emotionen checken. Also.

Frau Sowieso bezieht sich in einer im Internet leider normal gewordenen Klugscheißerei auf das Recht am eigenen Bild. Folglich habe ich versucht, mich in die entsprechenden GrundGesetzesTexte einzulesen, diese Beipackzettel zur Eindämmung deutscher Egozentrik. Ich gebe zu, ich habe nicht alles verstanden. Aber doch so viel:

„Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden.“
[§ 22 KUG]

„Unter Bildnissen im Sinne des § 22 KUG (KunstUrheberGesetz) versteht man die Darstellung einer natürlichen Person in einer für Dritte erkennbaren Weise. […] Das Recht am eigenen Bild ist bereits dann verletzt, wenn der Abgebildete begründeten Anlass zu der Befürchtung hat, er könnte identifiziert werden.“
[Landgericht Frankfurt, 19.01.2006]


Eine Einwilligung zur Veröffentlichung ist also erforderlich, wenn der Abgebildete eindeutig individuell erkennbar ist. – Darüber lässt sich bestimmt im Einzelfall füglich streiten und ich bin sicher, dass dies auch ausgiebig getan wird – aber wohl kaum in diesem speziellen Fall.

B. und ihr Foto also als entwürdigend, pietätslos und nicht mitfühlend zu bezeichnen, scheint mir dann doch extrem frech und anmaßend. Unwissend. Um nicht zu sagen: dumm.

 

Kapitel 6 - GANZKÖRPERRASUR

 

Weitaus „schöner“ noch empfinde ich aber diesen Satz von Frau Sowieso:

„Der Respekt vor jedem Lebewesen beginnt mit der Rücksichtnahme auf seine Intimsphäre.“

Eigentlich ja.

 

Doch hier schreibt dies eine Frau, auch dieses habe ich recherchiert, die, wohl unter der Schutzbehauptung, dass es komisch sei, womöglich gar Satire, in ihrem selbstverfassten Buch nur mit bösem Spott über die Menschen in ihrem (literarischen) Umfeld herzieht. Kassiererinnen sind da bspw. natürlich stets schlecht gelaunt; und Sekretärinnen, so sie aus Osteuropa stammen, sind selbstverständlich so angezogen, als seien sie gerade einem Pornofilm entsprungen. Unter Aussparung derer Namen, wohl auf Rücksichtnahme auf die Intimsphäre, werden von Frau Sowieso also gleich alle Kassiererinnen und osteuropäische Sekretärinnen generell abgeklatscht.

 

Außerdem mutet es mir seltsam an, gerade auf einer sozialen Plattform, die von einer ganzheitlichen Destruktion jeglicher Intimsphäre lebt, nach ebendieser zu rufen.

 

Intimsphäre, wie wünschenswert sie auch sei, war einmal. Weshalb dieser, wie auch alle anderen Versuche, sich auf Gesetze aus der Bismarck-Zeit zu beziehen, im mittelprächtigen Nichts enden. Siehe Sozialstaat und ähnliche Heringe. Doch ich schweife ab.

 

Kapitel 7 – DIE SACHE MIT DEM „CRAZY LITTLE THING CALLED“ MENSCH (A)

 

Wäre es nicht sinnvoller, sich für Existierendes zu interessieren? Den Menschen selbst!?

 

B., Menschenrechtsaktivistin, tut dies. Mit Sicherheit. Sie hat ihr Leben danach ausgerichtet. Sie benutzt weder andere Menschen noch deren Elend, um eine oder gar ihre Betroffenheit zur Schau zu stellen. Wobei an Betroffenheit nichts Schlechtes auszumachen wäre.

 

Tut Frau Sowieso dies auch? Ich weiß es nicht. Woher auch? Aber mir sind da so meine Zweifel gekommen. Bedingt durch ihre Art zu kommentieren; bedingt durch ihr Buch, in dem es in erster Linie wohl um sie selbst geht.

 

Natürlich wählten schon die größten Schriftsteller die Ich-Perspektive für ihre Werke. Doch die Großen nie eigennützig. Auch missbrauchten sie andere Menschen nicht lediglich als Vehikel für Spott und Denunziation, um letztendlich, im narrenbunten Kontrast, selbst als spaßiger, toller Hecht da zu stehen. Wenn, dann wählten sie die intelligente Satire, in der sie selbst Teil des von ihnen Angegriffenen sind.

 

Wer sich selbst aber erhöht, sich selbst nicht als Teil des Anzugreifenden sieht, hat es natürlich einfach: Betroffenheit kann es da ja gar keine geben. Nur Überheblichkeit.

 

Und mit der lässt sich heute bestens die Generation Comedy füttern, der es relativ egal ist, worüber sie lacht, solange sie mit der Fernbedienung das Programm, mit einem Klick das Ebook, mit einem Telefonat den Pizzabelag wechseln kann – ohne sich von der ausufernden Couchlandschaft erheben zu müssen.

 

Nochmal: Wäre es nicht sinnvoller, sich wirklich für Menschen zu interessieren? Entstünde dann nicht ganz automatisch diese Rücksichtnahme auf die verlorengegangene Intimsphäre, weil man den Menschen als Menschen, so wie er ist, respektiert?

 

Ich sage ja. Doch ich zweifle, dass dies „modern“ ist.

 

Kapitel 8 – DIE SACHE MIT DEM „CRAZY LITTLE THING CALLED“ MENSCH (B)

 

Auch als leidenschaftlicher Theatergeschichtelehrer.

Am Tag nach dem tiefgründenden Kennenlernen von B. im realen Leben sollte ich die Performance meiner Schüler zum Themenkreis „Futurismus – Abstraktes/Mechanisches Theater – Dadaismus“ mit einleitenden Worten versehen. Oder besser: Ich durfte.

 

Einen Auszug möchte ich hier wiedergeben, weil es mir ein tiefes Bedürfnis war, gerade diesen Aspekt, weswegen ich dieses Fach so leidenschaftlich unterrichte, kundzutun:

 

„… Theatergeschichte ist Menschheitsgeschichte. Und wozu das? – Weil Schauspieler, zumeist wenigstens, Menschen darstellen. Nicht sich selbst, sondern andere Menschen. In Theaterstücken, die von nochmal anderen Menschen erdacht wurden. In anderen Zeiten. Und wieder andere Menschen, Sie vielleicht, in wieder anderen Zeiten, jetzt zum Beispiel, dem Ganzen dann zusehen. Und damit nun Menschen von Menschen erdachte Menschen für Menschen glaubhaft darstellen können, müssen die darstellenden Menschen möglichst viel über Menschen im Allgemeinen wissen. Aber aber auch über die Menschen, die die Menschen erdachten, die sie dann spielen. Und auch über die Zeit, in der diese Menschen lebten, die schrieben, weil eben diese Zeit sie einst zu den Menschen machte, die sie waren, und sie sich eben deshalb ganz bestimmte Menschen in ihrer Zeit ausdachten, die in unserer Zeit auf der Bühne dargestellt werden sollen. …“

 

Kapitel 9 – DIE SACHE MIT DER STIMME

 

Diese, unsere Welt geriet schon längst aus dem Ruder, weil Menschen sich nicht mehr für Menschen interessieren. Und obwohl es wesentlicher Bestandteil des Schauspiels ist, interessieren sich die jungen, angehenden SchauspielerInnen auch nicht mal einfach so für den anderen Menschen. Warum auch? Die Medien hämmern ihnen ein anderes Weltbild ein.

 

Also versuche ich voller Leidenschaft, sie wieder dahin zu bringen. Versuche voller Leidenschaft ihnen die Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen, damit sie sehen können, wo sie stehen. Damit sie sich eine Stimme erstreiten in einer überalterten Welt, um ihre und meine Zukunft besser gestalten zu können, als ihre Eltern und ich es taten.

 

Also habe ich – siehe auch meine Anmerkungen zu meinem Gedicht – u.a. mit Obdachlosen Theater gemacht. Um ihnen eine Stimme zu ermöglichen. Und wie sie diese Möglichkeit damals ergriffen, als sie Joachim Zelters Stück „Schule der Arbeitslosen“ spielten. Für den Autor spielten sie die deutschlandweit beste Version seines Stücks. Im Vergleich mit den professionellen Bühnen.

 

Kapitel 10 – DIE SACHE MIT DEM RESPEKT

 

Bei aller Zuwendung und bei allem Respekt, den ich jedem Einzelnen damals zollte, hieß das aber nicht, dass jemand, der sich wie ein Trottel verhielt, nicht auch als Trottel bezeichnet werden durfte. Das hat nun nichts mit Respektlosigkeit zu tun, sondern mit Ehrlichkeit.

 

B. jdenfalls hat höchsten Respekt vor Menschen, interessiert sich aufrichtig für Menschen und ist deswegen auch ob bestimmter Begebenheiten in unseren Tagen betroffen. Dies darf sie selbstverständlich auch sagen und schreiben. Denn sie tut das ihr Mögliche, um den Menschen dann zu helfen.

 

Ob Frau Sowieso diese Anstrengung ebenfalls unternimmt? Ich weiß es nicht.

 

Von mir erlaube ich mir nur zu sagen: Ich versuche dies auch. Und ich fange beim Respektieren an. Ich respektiere Frau Sowieso als Mensch. Dennoch würde ich meinen Kinder, wenn ich welche hätte, den Umgang mit ihr nicht nahelegen. Und ansonsten bleibt die Sache mit der Ehrlichkeit: Das was sie geschrieben hat, um einmal mehr zu denunzieren, war einfach nur dumm.

 

EPILOG

 

Ich danke dem Höheren, an das ich glaube, für die Freundschaft mit B.

Und ich danke dem P., dass er den Abend, an dem alles begann, ermöglicht hat. Ihn zu kennen ist mir nicht minder wertvoll. Und auch dafür danke ich.

Und ich hoffe, dass wir, B., P. und J., bald wieder zusammen kommen können. Denn die Welt ist aus dem Ruder. Aber wir – und viele andere – haben Gemeinames: Den Willen, etwas korrigieren zu wollen.

 

Aufgrund von allerlei verständlichen aber auch unverständlichen Reaktionen, tu ich hier das, was ich normalerweise nicht tue: ich erläutere.

... UND DAS GANZE ETCETERA

 

»Die Realität ist nur eine Interpretation […]. «

(Erich Kasten, Psychotherapeut und Professor für Psychologie am Uniklinikum Lübeck)

 

»Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn. «

(Jorge Luis Borges)

 

»Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. «

(Pablo Picasso)

 

Zu meinem obigen Text, der Wellen schlug:

 

Es geht um Verhalten.

Es geht um Aussagen, wie sie heute zuhauf getätigt werden.

Es geht um Fakten, die keine sind, aber immer wieder als solche argumentativ herangezogen werden.

Es geht um einen beispielhaften Menschen, der Aussagen und Nicht-Fakten gewählter Art äußert.

 

Es geht aber NICHT um einen bestimmten Menschen ­­– nicht, solange der Name nicht genannt wird.

Die Verwendung von Sowieso – ein laut Duden „für einen unbekannten oder aus anderem Grunde nicht genannten Personen-, besonders Familiennamen eingesetztes Element“ – verstärkt dies.

Daran ändert weder Kennen noch Nichtkennen der womöglich Pate stehenden realen Person etwas.

 

Über das, worum es geht, wurden von einem Schreibenden vielleicht richtige, vielleicht falsche Gedanken, Gefühle und Schlussfolgerungen in vielleicht guter, vielleicht schlechter literarischer Weise zu Papier gebracht. Das muss ihm zugestanden werden, wie auch das Schreibende die den Prozess auslösenden Aussagen und Nicht-Fakten in ihrem geäußert werden können nicht in Frage stellte.

 

Über Aussagen, Nicht-Fakten, das Geschriebene – und insbesondere das Fazit, dass Menschen wieder Menschen respektieren sollten – kann man entweder im Stillen denken oder im Lauten diskutieren.

Im zweiten Fall gilt weiterhin, dass es dabei nicht um einen bestimmten Menschen geht.

Und es gilt auch weiterhin, dass Aussagen, Nicht-Fakten und das Geschriebene kundgetan werden durften – sowie das Fazit, dass Menschen wieder Menschen respektieren sollten.

 

Eine individuelle Bewertung des Geschriebenen, der verwendeten Aussagen und Nicht-Fakten, sowie auch des beispielhaften Menschen und des Fazits, gleich ob positiv, ob negativ, muss Diskutierenden erlaubt sein.

 

Was jedoch nicht sein sollte ist

Respektlosigkeit, weil dies dem Schreibenden Recht gibt. Und gerade dieses Recht will das Schreibende aufgrund des Fazits ganz offensichtlich nicht.

Was desweiteren nicht sein sollte ist

die Auflösung des Inkognitos, selbst wenn womöglich tausendfach eine reale Person Pate stand. Weil dann nicht mehr beispielhaft gedacht und diskutiert werden kann.

Auch wird in beiden Fällen jedes Gespräch, jede Auseinandersetzung persönlich – und verliert an Allgemeingültigkeit.

 

Die daraus entstehenden Aussagen könnten dann, zu allem Überfluss und unter Wahrung jedes Inkognitos, Grundlage werden für ein weiteres Geschriebenes mit dem Fazit, dass Menschen einander wirklich nicht respektieren können, weil jedes noch so verschlungene Interessenslabyrinth bei ihnen selbst endet.