WICHTIG ODER NICHT WICHTIG

Lesungen, die sind ja so eine Sache, nicht? Also wir gehen da ja nur hin, wenn wir … wie sagt man … den Leser? Nein - das wäre ja ich selbst. Die Leseperson? Klingt irgendwie doof. Na, egal! Also: Wenn wir … diesen Menschen … der da was vorliest … Hahahaha! … Entschuldigung! … Ich meine … Lesen kann ich ja wohl selbst, nicht? Wer braucht dafür …? Sehen Sie! Und außerdem … Ich sage nur: Hörbuch. Tolle Sache. Kein Bandsalat mehr heute. Einfach irgendwo aus dem Internet runterladen, rauf aufs Handy, Stöpsel ins Ohr, rauf auf die Autobahn - und gib Gummi. Ja!

 

 

Bitte? Seit wann ist Hören illegal. Der Mensch an sich hört schon immer. Noch bevor er anfing zu sprechen, dieser Affe damals, hat er schon gehört. Musste er ja auch. Sonst wäre er ja womöglich von einem Dinosaurier überrascht und aufgefressen oder von einem Steinrad überrollt worden, nicht? Das Sprechen jedenfalls kam erst sehr viel später. Hat bestimmt eine Frau erfunden, was? Hahahaha! Oder eben so einer, der den anderen das Gekritzel auf den Höhlenwänden vorlesen wollte. Naja, haha, irgendjemand wird’s schon gewesen sein.

 

 

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Damit wir uns überhaupt vom Sofa erheben und zu so einer Lesung hingehen, müssen wir jedenfalls diesen Menschen schon mal im Fernsehen, in einer Talkshow oder so, gesehen haben. Oder in der Spiegel-Bestseller-Liste. Die reißt meine Frau immer bei ihrem Gynäkologen heimlich aus dem Magazin. Interessiert ja sonst keinen. Und weil sie ständig schwanger ist, weiß auch nicht, verhütet wahrscheinlich nicht richtig, sind wir da immer auf dem Laufenden.

 

 

Das muss also so’n VIP sein. Schließlich muss man sich ja absichern. Nicht dass dann am Abend lauter unwichtige Menschen um einen herum sitzen. Bitte? Nein. Was gelesen wird, ist egal. Ein VIP muss es eben tun. Dann kommen die richtigen Leute. Und dann stört es auch nicht, wenn er es nicht wirklich kann. Also, das Lesen, meine ich.

 

 

Schaun Sie, die Frau Doktor Müller zum Beispiel, die merkt das ja sowieso nicht. Der Doktor ist in Wirklichkeit nämlich ihr Mann. Und sie … Naja. Aber sie veranstaltet immer so wunderschöne BBQs, zu der sie lauter wichtige Leute einlädt. Und da möchte man dann auch nicht fehlen, was? Da trifft man dann zum Beispiel auch den Direktor Stöck. Mein Gott! Der meint ja, weil er eine Schule leitet, sei er in Sachen Literatur eine Instanz. Dabei unterrichtet er Religion und Sport. Hallo? Hahaha! Aber das Abitur von unserem Sohn ... Sie verstehen? Da darf er sich ruhig auch für wichtig halten, dieser Stöck, nicht? Und ich bringe ihm dann sogar eine Extra-Thüringer und ein Pils an seinen Stehtisch. Gewusst wie, was?

 

 

Jedenfalls: Wichtige Leute sind wichtig. Angefangen beim VIP. Das „I“, nicht wahr? Steht für „wichtig“. Also auf Englisch oder Amerikanisch. „Important“. Nicht impotent, nein, haha, auch wenn man manchmal durchaus den Eindruck hat. Hahahaha! „Important“. „Wichtig“. Da fängt’s an. Beim VIP. Und geht dann weiter bei den Zuhörern. Also bei uns. Und da muss man dann schon drauf achten, dass die richtigen, also wichtigen, Leute kommen. Darf auch gerne ein bisschen mehr kosten. Auch wenn es ja eigentlich gar nichts kosten dürfte. Ist ja Werbung für den, der liest. Und wie gesagt: Lesen kann ich ja selbst. Eigentlich. Aber ich will ja mal nicht so sein. Hahaha! Wenn nur die richtigen Leute kommen.

 

 

Bitte? Zu einem völlig unbekannten Vorleser, der das gelernt hat? Professionell? Was bitte muss man denn da lernen? Das lernen wir alle doch schon in der Grundschule. Das ist doch unser aller kleines Einmaleins. Was? Ich bitte Sie! Und dann, ich meine, was für Leute kommen denn zu so einem? Die sind doch nicht wichtig. Womöglich fangen die sogar an mit einem über das Vorgelesene zu reden. Stellen Sie sich das mal vor! Kein Smalltalk, sondern ein Gespräch über Inhalte, bei dem man Rede und Antwort stehen soll!? Wer hätte da noch die Muße, mit offenen Augen genüsslich 90 Minuten zu schlafen. Zuhören müsste man. Aber das muss man ja schon den ganzen Tag. Kunden quatschen einen voll, der Chef quatscht einen voll, die eigene Frau quatscht einen voll. Ich meine, irgendwann am Tag muss doch mal Ruhe sein. Muss man doch Ohren und Gehirn auf Durchzug stellen dürfen. Mal.

 

 

Nein! Das ist kein Argument, dass es bei so einem weniger Eintritt kostet. Im Gegenteil. Kann ja dann nichts Besonderes sein, was? Wenn er es so billig verkauft. Ich meine, Sie sehen schon auch den Unterschied, oder? Ist wie bei Autos. Die billigen taugen nichts. Da ist ein großer Daimler oder ein großer BMW oder Audi, oder so, schon was ganz anderes. Ja, schön, die stehen öfter am Straßenrand und in der Werkstatt. Aber mal ehrlich: Was für eine Qualität! Und dann erst die Augen der anderen. Wenn die merken, dass man wichtig ist.

 

 

Nein, nein. Zu einem Billigleser werde ich ganz bestimmt nicht gehen. Wäre ja, wie mit einem Billigflieger in den Urlaub zu fliegen. Mach ich ja auch nicht, oder? Entweder ich fahre mit meiner Limousine ins Limousin … Hahaha! Sie verstehen!? … oder ich gewinne einen Urlaub bei einem Preisausschreiben. Auf nach Griechenland. All-inclusive. Versteht sich. Wegen der Joghurt-Diät. Hahaha! Nach jedem Essen einen griechischen Joghurt mit Walnüssen und Honig. Auf Kosten des Hauses natürlich. Wie auch die Ouzos. Oder? Der wehrt sich ja eh nicht mehr, der Grieche.

 

 

Hören Sie, ich sagte doch schon: Niemals ein Billigleser. Ja, wenn ihr Herr Soundso so richtig teuren Eintritt verlangen würde … Da könnte man ja vielleicht noch meinen, man hätte eine Talkshow übersehen. Oder die Frau einmal zu wenig geschwängert. Hahahaha! Und man geht dann vorsichtshalber doch hin. Könnten ja schließlich wichtige Leute dort sein. Aber wegen der Qualität? Hören Sie! Wegen Qualität schiebt heute kein wichtiger Mensch mehr seinen Arsch aus dem Haus. Sehen und gesehen werden. Zeigen, dass man selbst wichtig ist. Aufmerksamkeit erregen fürs eigene Ego. Ich meine, wozu lease ich mir ständig die größten Autos und neuesten Smartphones!? Für wen verschulde ich mich? Für Herrn Soundso? Bestimmt nicht! Nein! Frau Doktor Müller und ihr BBQ, das ist wichtig. Und Direktor Stöck an seinem Stehtisch, mit Extra-Thüringer und Pils. Schließlich muss mein Sohn trotz Legasthenie sein Abitur bestehen. Damit er mal wichtig wird.

 

 

 

© Jürgen M. Brandtner - 09.05.2016