KÖNNEN WIR WEITERGEHEN?

Heute dachte ich, ich sterbe.

Die Spaziergänge mit meinem Hund Max, der nun über dreizehneinviertel Jahre alt ist, richten sich seit geraumer Zeit ganz nach seiner Lust und Leidenschaft. Er wählt die Tour, er wählt die Dauer. Zieht es ihn auf eine alte, ortsumspannende Route, so freue ich mich darüber. Weil er auf diese Weise, er, der sonst den Tag verschläft, etwas für seine schwächer werdende Muskulatur und seinen auf Sparflamme kochenden Kreislauf tut. Heute war wieder so ein Morgen.


Wir schlenderten zur östlichen Ortsumgehung. Früher ging es von da aus über die Felder. Doch dieser Weg wäre heute zu weit für ihn. Aber um die Sporthallen, meine Tankstelle, dann teilweise durchs nördliche Industriegebiet und schließlich quer durch sein Viertel wieder zurück nach Hause, das geht noch.


Wieder war jeder Grashalm mit einer Wichtigkeit gesegnet, dass man hätte meinen können, alle Hunde der Stadt, wenn nicht gar der Region, wären bereits vorbeigekommen und hätten Nachrichten hinterlassen. Dabei waren wir sehr früh dran, weil der Tag bereits in den frühen Morgenstunden versprach warm zu werden, und somit konnte dies gar nicht sein. Vielleicht kann er nicht mehr so gut riechen, wie einst. Vielleicht sind es aber auch Momente des Regenerierens, weil er weiß, dass er einen für ihn weiten Weg eingeschlagen hat.


So verbrachten wir eine ziemlich lange Zeit bei den Sporthallen. Und ich wurde ein klein wenig unruhig, weil sich die Sonne bereits wärmend am Himmel hob. Ihm würde das letzte Stück Weg, ob seines langen Fells, schwer fallen. Also, wenn er jetzt nicht weitergeht, werde ich ihn wegziehen müssen, dachte ich. Doch da setzte er sich bereits in Bewegung.


Der nächste Teil der Strecke führt gegenüber der Felder an der Umgehungsstraße entlang. Nicht sonderlich ergiebig für ihn. Und mir stets eine Last, wegen der vorbeistinkenden und -lärmenden Autos. Doch bald erreichten wir meine Tankstelle.


Ab hier führt der Weg erstmal für etliche hundert Meter durchs nördliche Industriegebiet. Und wie es sich für jedes anständige Industriegebiet gehört, befinden sich auch hier bei uns außer Fabrikhallen diverse Gebrauchtwagenhändler und eine Currywurstbude entlang des Weges. Zumeist befinden sich hinter den Zäunen dieser kleineren Betriebe freundliche Hunde. Nicht des scharfen Bewachens wegen, sondern um Laut zu geben, wenn jemand das Gelände betritt. Eine durchaus attraktive Route also für meinen Hund, um mal hier und mal da Hallo zu sagen. Und die Zäune verhindern, bei schlechter Laune auf der einen oder anderen Seite, unnötige frühmorgendliche Auseinandersetzungen.


An der Tankstelle gibt es keinen Hund. Also geht es hier zumeist zügig voran, es sei ein anderer Hund führte sein Herrchen gerade in Gegenrichtung auf die Felder. Heute Morgen kam keiner. Also: Stehen bleiben, den meist regen Verkehr ums Tankstellengelände vom eigenen Herrchen abchecken lassen, und dann, auf Zeichen, flott über die Straße. Zur Currywurstbude. Da gibt es ja zumeist etwas zu riechen. Selten Hund. Eher Schwein. Rind. Kartoffel. Altes Fett. Bier und Cola. Aber hinriechen muss man auf alle Fälle. Wer weiß …


Und just im Moment der Entscheidung, dass es hier heute nichts zu schnuppern gäbe, was einen längeren Aufenthalt in der Sonnenzone rechtfertigen würde, vernahm ich, nicht er, mein Hund, nein, ich das Bellen eines Hundes. Mir war nicht gleich klar, woher das Bellen kam. Und meinem Hund schon gar nicht. Sein Hirn spielte ihm mittlerweile akustische Streiche und ließ ihn immer wieder mal rechts und links in der Geräuschwahrnehmung vertauschen. Aber wenn mir die Richtung auch noch nicht ganz klar war, der Tonfall war mehr als eindeutig. Ein sehr gefährlich, wütend klingendes Bellen drang, jetzt war mir klar woher, von hinter der Currywurstbude an unsere Ohren. Okay. Wir hatten schon diverse Male hier einen Hund gehört. Wahrscheinlich auch zur Sicherheit des Budenbesitzers. Und der beruhigte sich auch stets gleich wieder, wenn wir nur ein paar Schritte Abstand gewonnen hatten.


Ein Schritt. Noch ein Schritt. Das Bellen blieb. Wurde wütender. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Plötzlich veränderte sich der Klang des Bellens. Und im nächsten Moment kam, mit gefletschten Zähnen, einer Bestie gleich, dieser Hund hinter der Bude hervor und direkt auf uns, vielmehr auf meinen Hund zugeschossen. Und schon ging der einseitige Kampf los. Früher … Oh weh! Mein Max konnte raufen wie kein Zweiter. Doch heute fehlt ihm die Kraft dazu. Und er stand einfach da. Den Angriffen hilflos ausgesetzt.


Beinahe hilflos. Denn ich schob mich, nach dem Besitzer schreiend, zwischen Max und seinen Angreifer. Es war mir in diesem Moment egal. Sollte er mich beißen. Aber auf keinen Fall meinen Hund, der eh dabei war sich ganz langsam mehr und mehr von mir zu entfernen, was mir oft genug schmerzhafte und tränenreiche Momente bescherte. Doch den Angreifer interessierte meine Wade nicht im geringsten. Er suchte nach Durchkommen zur Flanke seines Feindes.


Stunden vergingen für mein Empfinden, bis der Hundebesitzer endlich herbei kam.


Zwischenzeitlich hatte mich mein Bemühen, Max aus der Bisslinie und den Angreifer auf Distanz zu halten, einen Veitstanz aufführen lassen, der mich völlig aus der Puste gebracht hatte. Und doch sah ich in dem Moment, als die Currywurst seinen Hund eingefangen hatte, in dessen Hundeschnauze einen Büschel schwarzweiße Haare, unverkennbar Fell von meinem Max. Augenblicklich sank ich nieder zu seinen Füßen und untersuchte ihn zu den Gebetsmühlenklängen von „O Gott, das tut mir schrecklich leid, er hat sich einfach losgerissen“, soweit dies bei seinem dichten, langen Fell möglich ist, auf Bissspuren. Und gerade dieses wundervolle Fell, das, als er noch jünger war, morgens einen unvergleichlich wohligen Duft verströmte, dieses Fell hatte ihn einmal mehr vor einer Verletzung bewahrt.


„O Gott, das tut mir schrecklich leid, er hat sich einfach losgerissen“ hörte ich wie durch Watte. Und von der anderen Straßenseite „Müsse Polisei anrufe. Mache.“ Und die akustische Welt verschwamm hinter einem Vorhang. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Stehen bleiben. Wo ist vorne? Wo rechts? Wo links? Ein Schritt. Noch ein Schritt. Es ist so heiß. Nein, kalt. Stehen bleiben. Atmen. Doch wie? Weiter. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Was klopft an meinen Haaren? Scheiße. Das ist mein Herz. Der ganze Körper ein einziges Pochen, ein einziger eiskalter Schweißausbruch hinter einem atemlosen Vorhang aus unbarmherziger Watte. Stehen bleiben. Sterben.


Als das Pochen dann wieder erträglich geworden war, die Atmung wieder Sauerstoff zuführte, der Schweiß sich in die Poren zurückgezogen hatte und die Vögel wieder Autofahrer beschimpften, sah ich hinunter zu Max - und er zu mir hoch mit den Worten: Können wir weitergehen?

 

© Jürgen M. Brandtner - 15.04.2015