KAPITEL 1: WIE ICH DURCH EINE SCHWEBFLIEGE ZUM SCHREIBEN KAM

Vor zehn Minuten hatte ich eingecheckt in einer vom Hotel angemieteten Einliegerwohnung, in der ich mich in den kommenden Wochen sicher wohlfühlen konnte. Jedenfalls wohler, als in einem engen Hotelzimmer. Sogar Zugang zu einem Etwas, das man entfernt Garten nennen konnte, hatte ich, mit einer kleinen Sitzecke, um im Freien Kaffee zu trinken und meinem Laster des Rauchens frönen zu können. Und hier saß ich nun, erwartungsfroh aufs Kommende blickend, rauchte und lauschte der akustischen Melange aus vorbeifahrenden Autos und dem Rauschen der Scherzach, die in wenigen Metern Entfernung friedlich vorbeifloss und den Ort durchquerte.

Auf dem Tisch lagen ein Block Papier und ein Kugelschreiber. Selbstverständlich wollte ich die Vorzüge dieser kleinen Wohnung nutzen und mich, bis auf das Inklusiv-Frühstück, selbstversorgen. Einen Herd mit Backofen gab es. Eine Espressokanne hatte ich mitgebracht. Töpfe, Pfannen und Geschirr waren reichlich vorhanden. Nur Besteck - vor allem Messer - waren nach und nach abhanden gekommen. Doch das sollte mich nicht daran hindern, genau das zu kochen und zu essen, worauf ich Lust hatte.

Doch irgendwie blieb der Block leer. Zu beschäftigt waren meine Gedanken mit dem Kommenden. Denn schließlich war ich nicht nur so hierhergekommen oder um Urlaub zu machen. Oh nein. Ich vergaß wohl zu erwähnen, dass ich Schauspieler bin. Und das war der Grund für mein Hiersein. Proben und Aufführungen für Sommerfestspiele. Das Stück: Mirandolina von Carlo Goldoni. Meine Rolle: der frauenfeindliche Ritter Ripafratta. Vor allem das Frauenfeindliche schien mir hierbei eine Herausforderung, hielt ich mich doch seit jungen Jahren eher für eine Gestalt aus einem Truffaut-Film, für Bertrand Morane, den „Mann, der die Frauen liebte“.

Wie also sollte ich meine Figur anlegen, wie den Ritter spielen. Sein Aussehen war klar. Das Kostüm gab es bereits und ich hatte mir die Haare wachsen und einen passenden Bart stehen lassen. Leider war dabei auch ich ein wenig gewachsen, nicht in der Länge, sondern im Umfang. Und wie sich nachfolgend herausstellen sollte, wollte dieser neue Umfang auch nicht mehr von mir weichen. Jedenfalls war dies mit ein Grund, warum meine Zwischenmahlzeit nicht aus einem leckeren Tortenstück bestand, das es direkt gegenüber in einem winzig kleinen Café gegeben hätte, sondern aus einem von zu Hause mitgebrachten Apfel.

Vom Kerngehäuse befreit und in acht Stücke zerteilt lag dieser auf einem kleinen Teller mit schrecklichem Blumenmuster und diente mir als Denkhilfe. Jedem der Stücke ordnete ich eine Eigenschaft meiner Rolle zu und versuchte die Puzzleteile zu einem homogenen Ganzen zusammenzufügen, indem ich, als Eselsbrücke, die leicht klebrigen Apfelstücke zusammenschob, in der Hoffnung, dass am Ende der Überlegungen etwas Rundes dabei herauskommen möge.
Der Duft meines Apfels war lockend. Es dauerte nicht lang und eine Schwebfliege war da. Eigentlich waren Blattläuse mehr „ihr Ding“. Da diese sich aber von Herzen gern auf Apfelbäumen tummelten, war es für die Schwebfliege naheliegend zu überprüfen, ob es auch in diesem Fall ein Zusammentreffen von Nahrungsmitteln gab. Wie ein Helikopter stand sie über den Apfelstücken, ihre Überwachungskameras auf das Obst ausgerichtet, erst hier, dann da, mit einer unfassbaren Leichtigkeit. Es war absolut faszinierend. Meine Aufmerksamkeit wanderte ganz zu ihr. Was sollte mir Einkaufsliste, was Rollenstudium, wenn sich direkt vor meinen Augen eines der vielen Wunderwerke unserer Welt präsentierte. Ich weiß nicht wann, aber irgendwie fand der Kugelschreiber in meine Hand und fing an, seine Spuren auf dem Papier zu hinterlassen, während all meine Sinne im Reich der Schwebfliege verankert waren. Und als der kleine Zweiflügler davon flog, fand ich fünf Zeilen auf dem Papier:

 

Schwebefliegen fliegen, schweben

Nur für mich – so scheint’s – am Morgen

Wirbeln Luft – und weg die Sorgen

Dieses Bild werd ich mir borgen:

Flieg heut schwebend durch mein Leben.

 

Ich war sehr erstaunt. Ein Gedicht. Es musste über zehn Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal ein Gedicht geschrieben hatte. Für die Band, in der ich damals sang und die Lyrics schrieb. Überwiegend völlig unbedeutendes Zeug. „Ich hatte mich zurecht gemacht für eine lange Nacht. Plötzlich stand sie da vor mir, mitten in der Tür. Ich heiße Sandra, sagte sie. Ich bekam ganz weiche Knie. Mit diesem Mädchen durch die Nacht. Und jetzt war’s erst halb acht. Sandra, du bist wunderbar, Sandra, du bist so schön. Sandra, du bist wunderbar. So was wie dich hab ich noch nie gesehn.“ Auch wenn gerade sowas in der lokalen Szene zu einem Riesenhit und zu unserer Hymne wurde. Und nun, über zehn Jahre nach Auflösung der Band stand da der zaghafte Versuch eines Gedichts auf dem Papier - und hatte sogar Inhalt. Hatte den Moment aufgesogen und wieder ausgespuckt, camera-obscura-gleich. Ein lyrischer Eintrag in ein nicht existierendes Tagebuch.

Und in diesem Moment wurde eine Idee geboren, von der ich zwar nicht wusste, ob sie realistisch wäre, die ich aber nicht so ohne Weiteres wieder verwerfen wollte. Während meiner Zeit hier, fern von zu Hause, wollte ich, vor allem frühmorgens und spätnachts, wenn die Sehnsucht am größten ist, ein lyrisches Tagebuch führen. In mich horchen und meine Empfindungen oder Momentaufnahmen von dieser kleinen, isolierten Künstlerwelt niederschreiben. Und - kurz: ich tat es. Und seitdem hat mich das Schreiben nicht losgelassen.

Dies war vor gut zwei Jahren. Und zwischenzeitlich habe ich wohl an die achthundert Gedichte geschrieben, und aus einigen, die aus meinem Schauspielerberuf heraus und in ihn hinein wuchsen, entstand sogar ein kleines Buch. MEINE TANTE IM KELLER - Schwarzhumorige Lyrik. Damit bin ich unterwegs, lese hier, da und dort. Schauspielere und lebe meine makabren Geschichten, entführe meine Zuhörer auf Friedhöfe, lasse sie Menschen ermorden und hinrichten und zu leckeren Braten zubereiten. Und entlasse sie mit einem Lachen auf ihrem Gesicht und einem in ihrem Hals.

Und das Schreiben - hat nach wie vor kein Ende.
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