AUTORENLESUNG - Ein Resümee

„Na, großartig!“ Das war das erste, was ich dachte, als ich mich dem Pavillon, in dem ich lesen sollte, näherte.

Durch die halb offene Tür sah ich eine Reihe von akademisch angeordneten, riesigen Tischen mit Stühlen drum herum. Nicht besonders stimmungsvoll. Und der alte, rot angestrichene Pavillon ist zudem nicht besonders groß. Offensichtlich rechnete das Literaturforum, das mich zur Lesung meines Buchs „Meine Tante im Keller“ eingeladen hatte, aufgrund des Sujets - schwarzhumorige Gedichte - nur mit einer Handvoll interessierter Zuhörer aus ihren eigenen Kreisen.
Nun ja. Ich begrüßte freundlich die Verantwortlichen, ließ mir meinen Leseplatz, am einen Kopfende, zuweisen, legte mein Skript und die, zum Verkauf gedachten, mitgebrachten Bücher aus, und ging fürs Erste schnell wieder nach draußen. Nur schnell mit einer Gauloise tief durchatmen. Weder saß drinnen irgendjemand, noch stand draußen, im blättrigen Schatten der Biergartenbäume, irgendjemand unterm Abendhimmel in der lauen blauen Stunde Schlange. Und ein zweites „Na, großartig!“ wurde von mir hinter den Schneidezähnen abgewürgt.
Doch wie es oft ist, so auch an diesem Abend. In der folgenden halben Stunde erschienen gut zwanzig Interessierte, nicht nur aus den Kreisen des Literaturforums, und es mussten weitere Stühle aufgestellt werden. Man hatte tatsächlich mit weniger Zulauf gerechnet. Ich war begeistert.
Etwas Smalltalk eröffnete dann den Abend. Zunächst mit einem jungen Mann, der spürbar schauspielinteressiert war und mich auf angenehme Weise über mein Tun und meinen Beruf ausquetschte. Desweiteren mit einer Zuhörerin, etwa in meinem Alter, die sich meinen Namen aus der Zeitungsankündigung nicht gemerkt hatte. Ich nannte ihn ihr, worüber wir, ganz richtig, auf Österreich kamen und damit zum kontinentalen Einfluss meiner Lyrik. Und schließlich erschien, wie eigentlich immer beinahe zu spät, auch noch mein bester Freund und seine Frau, zwei wundervolle Menschen, die es bislang bei ortsferneren Terminen nicht geschafft hatten, meiner TANTE beizuwohnen. Doch dieses Mal präsentierte „sie“ sich quasi vor ihrer Haustür. Und unsere gemeinsame Freude war groß.
Neunzehn Uhr. Ungnädig früh für eine schwarzhumorige Lesung. Ich war gespannt, wie all das schwarze, morbide zu „ungeistlicher“ Stunde auf die Schar der Zuhörer wirken würde. In diesem Ambiente, das eher für eine Abiturprüfung, denn für lüsterne Tabubrüche taugte. Zudem die allermeisten der Erwartungsvollen wenigstens mein Alter hatten und einige sich sogar bereits tapfer in Rente und Pension befanden. Doch davon ließ ich mich nicht entmutigen. Im Gegenteil. Ich erinnerte mich an einen Leseabend mit erotischer Lyrik vor einer wilden Schar baden-württembergischer Sekretärinnen. Am lautesten lachten und applaudierten damals die schon lange berenteten Damen. Ich war schon immer der Schwiegersohn-Typ.
Nach einer kurzen, erläuternden Einführung ging ich in medias res. Mittlerweile beginne ich die Abende mit meinem „Poème funèbre“. Dadurch wird gleich klar, dass ich mit Sprache spiele, mit Idiomen jongliere und keinerlei Ehrfurcht vor Tabus besitze. (Wenigstens trifft dies auf den fantasierenden Schriftsteller zu.) Die logische Konsequenz war Irritation. Und das war gut so. Ich mag es nicht, wenn Leseabende von Anfang an mit unehrlichem Applaus zerklatscht, mit unehrlichem Gegackere zerlacht werden. Die Menschen sollen sich erst einmal einhören - und dann wird man erfahren, wie sie ehrlich reagieren. So also auch an diesem Abend. Alles bestens.
Schon mit dem nächsten Gedicht hatte ich dann die ersten in der Tasche. Einen betagten Pensionär gar im Taschenbuch. Denn er sprang auf, seinem Alter geziemend, und holte sich eines meiner Bücher vom Büchertisch. Nicht um darin begleitend zu blättern, nein, nur um es schon mal zu haben. Gezahlt hat er es dann in der Pause.
Ab Gedicht Nummer drei hatten wir alle gemeinsam dann einen sehr, sehr heiteren Abend. Inklusive etlicher Momente, in denen das Lachen erstarb, worüber ich sehr froh war. Lässt es doch hoffen, dass Ethik und Moral noch nicht völlig den Bach runter sind und es immer noch einige Tabus gibt, die unser Sozialgefüge zu einer Gemeinschaft machen.
Die notwendige Pause, nach etwa einer dreiviertel Stunde, wurde mir nicht gegönnt. Das heißt, selbstverständlich machte ich eine Pause. Damit die Herrschaften Getränke nachfassen bzw. ablassen konnten. Aber ich selbst musste, nein, durfte Rede und Antwort stehen. „So etwas Schwarzes habe ich ja noch gar nie gehört! … Wundervoll!“ - „Das ist tatsächlich alles von Ihnen? … Wie kommt man nur auf solch herrlich schräge Geschichten?“ - „Das ist vielleicht geil. Sowohl deine Texte, wie auch deine Art sie zu präsentieren!“
Der zweite Teil war dann vom Textumfang deutlich kürzer. Ob er aber wirklich weniger lang gedauert hat, wage ich zu bezweifeln. Baten mich ältere Zuhörer in der Pause doch darum, etwas Tempo heraus zu nehmen. Ganz so schnell könnten sie nicht mehr der Flut der Eindrücke und meiner Zunge folgen. Was ich dann natürlich auch tat. Selbst bei meinem Rap („Zwiebelkuchen“), der dann eben zu einem literarischen Stehblues wurde. Aber ich mach’s ja für den Zuhörer, also darf er - in Grenzen - auch mitbestimmen.
Schneller als es mir lieb war, war der Abend dann vorüber. Ich beende ihn bei solchen Gelegenheiten stets mit der „Moritat des laufenden Hutes“, die die Zuhörer gar nicht dezent darauf hinweist, dass der Vorleser einer kleinen oder größeren Spende gegenüber sich ganz und gar nicht verschlossen zeigen würde. Der Wink mit dem lyrischen Zaunpfahl wurde verstanden. Zwar musste ich nicht die Mathematikkenntnisse meines Elektrotechnikstudiums reaktivieren, vierte Klasse Grundschule reichte aus, aber ich war sehr, sehr positiv überrascht vom Ergebnis meiner Addition.
Hinzu kam, dass ich erstaunlich viele Bücher an Frau und Mann brachte. Dreißig Prozent der Zuhörer gingen mit einem Exemplar nach Hause. So verwöhnt wurde ich bislang nicht. Außerdem wollten alle Käuferinnen und Käufer eine persönliche Widmung - was auch nicht an jedem Leseabend der Fall ist. Als neues Normal werde ich dies dennoch nicht einordnen. Hier bleibe ich Realist.
Wundervoll war abschließend, dass fast die Hälfte meiner Gäste auf einen nachfolgenden Umtrunk dablieb, so dass der Abend etwa zwei weitere Stunden lang mit wunderschönen Gesprächen - und nicht nur über meine Gedichte -, viel Lachen und dem einen und anderen Getränk andauerte und ganz langsam, beinahe zum Ausgleich zärtlich, unter sternenbehangenem Nachthimmel in dem an den Pavillon anschließenden Biergarten ausklang.
© Jürgen M. Brandtner - 04.09.2013